Gerald Grüneklee, Clemens Heni, Peter Nowak: Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik Eine notwendige Erinnerung

Sachliteratur

»Wir erleben derzeit das grösste weltweite Experiment der Politik, wie tagtäglich etwas mehr autoritäres Handeln, etwas mehr Willkür und Polizeistaat unser aller Leben bestimmen.« (S. 105)

U Alexanderplatz.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

U Alexanderplatz. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

19. Juni 2020
3
0
5 min.
Drucken
Korrektur
Der Mensch gewöhnt sich an alles. Auch der schärfste Kritiker wird müde, auch tiefsitzende Wut kann in Resignation umschlagen, auch der schärfste Blick kann vom Alltag getrübt werden. Irgendwann hat man es satt, immer in der aktuellen Scheisse rumzuwühlen, allein schon, um nicht dauernd darunter zu leiden, verdrängt man. Das ist gefährlich.

Als ich nach 9 Jahren in Mali einen Putsch erlebte und von einem Tag auf den anderen nichts mehr war wie vorher, dachte ich nach kurzer Zeit: »Aha, so war es bei den Nazis auch, der Alltag geht weiter, das Neue ist nicht mehr sensationell, Geburten, Tode, Hochzeiten, Schulzeugnisse und Fragen des Speiseplans bestimmen die Tage und man kann nicht mehr ununterbrochen das Unrecht anklagen, gar etwas dagegen tun.« Genauso ging es mir jetzt mit meiner Wut über die schleichende Machtergreifung der herrschenden Klassen der Welt; ich liess damit nach, überall und zu jedem Zeitpunkt und jedem und jeder gegenüber Klartext zu sprechen.

Auch als ich das in der »edition critic« erschienene Buch in den Händen hielt, dachte ich zunächst: »ich kanns nicht mehr hören, mein Akku ist leer!«

Zum Glück begann ich trotzdem darin zu lesen. Mit jeder Seite blätterte eine Verdrängungsschicht von mir ab, jede Nennung banaler Fakten zog mich aus dem Relativierungssumpf, jedes Zitat erinnerte mich an was ich selbst gedacht hatte:

Gegen Corona kann sich jeder Mensch besser schützen als gegen Raser auf der Autobahn, die den vorsichtigsten Autofahrer töten können, und trotzdem erwischt es zu viele. Gegen Corona kann sich jeder Mensch besser schützen als gegen resistente Krankenhausviren, und trotzdem erwischt es zu viele. Gegen Corona kann sich jeder Mensch besser schützen als gegen schwere Grippewellen, selbst wenn es dagegen Medikamente gibt, besser als gegen Malaria, TBC oder das Dengue Fieber.

Damit wird dieses Buch eine Erinnerung an die Tatsache, dass die Massnahmen gegen Corona ein generationenübergreifendes Verbrechen sind. Das Wichtigste an diesem Buch ist allerdings seine Erinnerung an die Grundkriterien dessen, was linkes Denken ist, die Grundbestimmungen linker Politik: global oder gar nicht und Orientierung an den untersten der Unteren.

Nur zwei Beispiele: Grüneklee, Heni, Nowak stellen nicht die Zahlen der 4000 in Deutschland vom Autowahn ermordeten Opfer den Coronatoten gegenüber, sondern die der ganzen Welt: 440 000 – woran deutlich wird, dass jedes Jahr eine mittlere Grossstand ausgerottet wird, damit die Konten der Autoaktionäre fetter werden, weswegen kein Lockdown verkündet wird. Schon im ersten Kapitel werden die wirklich Betroffenen der Massnahmen benannt, nicht nur die Krankenschwestern und Kindergärtnerinnen, sondern die Obdachlosen und Tagelöhner, die weltweit millionenfach hungern, während von Luxusappartmenthäusern bunt die Schrift »stay home« blinkt.

Wer behauptet, dass links und rechts verschwimmen, schwimmt bereits im Strom nach rechts:

Rechts will Volksgemeinschaft, links Völkergemeinschaft – zwei inkompatible Kriterien, die nicht verschwimmen können; rechts will Besitzstandswahrung, links Besitzverteilung – ebenfalls scharf getrennt und inkompatibel: rechts will oben und unten - links will von gleich zu gleich: da geht nichts zusammen.

Wer totalitäre Massnahmen einer Regierung befürwortet, macht sich lächerlich, wenn er sich als »links« bezeichnet. Wer gar Kritik an weltweiter Entmündigung erwachsener Menschen als »rechts« zu denunzieren versucht, wird auch noch unverschämt mit dem dümmsten Trick 17, den es gibt: »haltet den Dieb«:

Als ob eine Kritik dadurch falsch würde, dass sie auch von Rechten geteilt wird. Rechte Kritiker sind die 5. Kolonne der rechten Regierungs-Totalitaristen: indem sie die Kritiker auf der rechten Seite sammeln, bleiben diese bei der Fahne; Hauptsache Grenzen zu und Dax Index stimmt, dann kann man auch Einschränkung von Bürgerrechten kritisieren, die die Freiheit des Mittelstands einschränken.

Wer also meint, die Begriffe rechts und links verschwämmen, hat seine linke Haltung längst aufgegeben, verdrängt oder vergessen.

Der Vergleich mit dem Nationalsozialismus ist deshalb gefährlich, weil er Gefahr läuft, die organisierte Menschenvernichtung in den Konzentrationslagern zu verharmlosen.

Wer allerdings jetzt die organisierte Menschenvernichtung von unzähligen Menschen vor allem in den südlichen Ländern der Erde – in Afrika gibt es schon lange mehr Tote durch die Massnahmen gegen Corona als durch Corona selbst -, aber auch in Europa allein durch verbotene Hilfeleistung – die Schätzungen der an zum Zweck der Krankenbett Freihaltung verweigerten Operationen gestorbenen Menschen liegt zwischen 5000 und 125 000 (Studie des Innenministeriums, die trotz Verbots veröffentlicht wurde) −, sowie Selbstmorden;

wer diesen diktatorisch weltweit durchgesetzten Völkermord nicht mit derselben Kompromisslosigkeit wie den Nationalsozialismus anklagt, macht sich genauso schuldig wie die von uns in den 60−er Jahren kritisierte Elterngeneration.

Wer bisher ein »wehret den Anfängen« vor sich her trug und jetzt nicht uneingeschränkt »stop« ruft und danach handelt, wird sich, sollte es eine Zukunft geben, von seinen Kindern dieselbe Frage anhören müssen, die wir unseren Eltern stellten: »wieso habt Ihr das zugelassen?« Daran erinnert dieses Buch. Deshalb ist es Pflichtlektüre.

Christof Wackernagel

Gerald Grüneklee, Clemens Heni, Peter Nowak: Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik. Edition Critic 2020. 190 Seiten, ca. SFr 17.00. ISBN 978-3-946193-33-3